Von Emmanuelle Le Roy, WASH Project Manager
Die Lage in der Hauptstadt Port-au-Prince und im Département de l’Ouest ändert sich sichtbar: Seit mehr als zwei Jahren bietet Haiti in den vom Erdbeben zerstörten Regionen den Anblick einer Landschaft, die von Plastikplanen aller Größen und Qualitäten und mit den unterschiedlichsten Bezeichnungen beherrscht wird. Mit den Planen kann man so viel machen: Man kann ein Haus abdecken, eine Toilette abgrenzen, einen Hühnerstall oder ein Feld vergrößern, eine sichere Unterlage für das Gemüse schaffen, wenn man es auf dem Markt oder an der Straße verkaufen möchte und man kann sogar Klassenzimmer mit ihnen improvisieren. Es gibt sie wirklich überall. Ich vermag mir den Profit der Hersteller und Vertreiber dieser Plastikplanen gar nicht vorzustellen!

Jetzt aber werden diese Plastikplanen nach und nach von Sperrholz verdrängt. Überall entstehen kleine Häuser. Jede Hilfsorganisation hat so ihren eigenen Stil für die kleinen Bauten, aber sie alle entsprechen den nationalen Normen und Standards, sodass fast eine Art Einheitsstil entstanden ist. Durch die Bewohner selbst werden viele individuelle Noten hinzugefügt, durch einen Vorhang, eine kleine Terrasse, einen kleinen Anbau oder etwas Farbe.
Aufgrund eines Regierungsplanes wurden sechs große Lager in Port-au-Prince und den benachbarten Gemeinden aufgelöst. In einem Pilotprojekt bekam jede Familie 500 Dollar. Damit sollten sie sich für einige Monate ein Haus mieten und in dieser Zeit eine Arbeitsstelle für den Lebensunterhalt finden. Bei manchen reichte das Geld für ein Jahr, bei manchen jedoch nur einige Monate. Man muss wissen, dass in Haiti die meisten Hauseigentümer eine Mietvorauszahlung verlangen: manchmal nur für wenige Monate, manchmal aber auch für sechs oder sogar für zwölf Monate.
Einige Plätze mit Lagern, an denen ich täglich vorbeigefahren bin, waren jetzt wie leergefegt. So zum Beispiel auf dem Platz an der Kreuzung zum Flughafen und auf den beiden großen öffentlichen Plätzen in Pétionville. Hier leben die meisten Ausländer, es gibt Restaurants, Bars und eine insgesamt erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung. Heute sind alle Familien aus den Lagern verschwunden.

Dieser Prozess war merkwürdig: Zunächst waren diese Lager sehr dicht bevölkert. Wenn man vorbeifuhr, sah man die ungepflegten Latrinen, die zerrissenen Zelte, Menschen, die auf irgendetwas warteten, Pfützen mit stehendem Wasser und Menschen, die sich vor den Augen aller wuschen. An der Wasserstelle sah man die Warteschlange derer, die einige Kanister füllen wollten und oft sah man einige fliegende Händler, die versuchten, einen kleinen Verkaufsstand einzurichten, um einige Gourdes zu verdienen. Gourdes, so bezeichnet man die haitianische Währung. Die Mehrzahl der Vorbeifahrenden bekam diesen ersten Eindruck, der bereits das Elend zeigte. Die tatsächlichen Zustände sah man jedoch nur, wenn man richtig in die Lager hinein fuhr, z.B. um dort zu arbeiten. Im Allgemeinen aber standen die Zelte so eng, dass man das Leben im Lager selbst gar nicht sehen konnte, wenn man lediglich daran vorbeifuhr. Erdrückten die Enge und die Zahl der Zelte das Elend oder verdeckten sie es?
Als die Lager geräumt wurden, sind zunächst einige wenige Zelte und Familien übriggeblieben – sie standen dort, wie vom Winde verweht, vereinzelt und weit verstreut. Nun konnte diese kleine Zahl ihr Elend nicht mehr vor den Augen der Passanten verbergen. Das ganze Ausmaß der Verletzlichkeit dieser Familien, die keine Aussicht auf eine andere, bessere Zukunft hatten, wurde offenbar. Die Zelte, bzw. Plastikplanen waren schief, nichts stand mehr gerade, vieles war zerrissen, dem Wind, dem Regen und allen Unwägbarkeiten des Wetters und anderen möglichen Ereignissen schutzlos ausgeliefert. Wäsche hing an einer Leine, die selbst fast im Staub lag. Das Wort „Notunterkunft“ bekam hier einen ganz intensiven eigenen Sinn.

Heute sind diese Lager alle leer und die Plätze gereinigt. Jetzt entdeckt man noch eine Wasserstelle, ein Basketballfeld mit den Körben, ein paar Treppenstufen, Spielzeug… so viele einzelne Dinge, die ich niemals vorher sehen konnte. Zu meiner großen Überraschung sind diese Räume jetzt wieder große öffentliche Plätze geworden: Die Männer sitzen hier im Schatten, manchmal spielen sie Domino, Kinder spielen, Jugendliche tauschen Geheimnisse aus, Verliebte turteln, andere quatschen und flirten. Ich habe diese Plätze ja immer nur als Lager gekannt, deshalb kann ich nicht sagen, dass sie jetzt wieder aussehen wie „vorher“. Aber ich konnte mir nie vorstellen, dass die Menschen so einfach an diese Orte zurückkehren und sie so normal nutzen, dass Menschen so schnell vergessen, dass hier zwei Jahre lange Lager für Obdachlose waren. Für mich sind diese Plätze symptomatisch für das „goudougoudou“, wie das Erdbeben vom 12. Januar 2010 hier genannt wird. Die Haitianer aber stehen wieder auf und machen weiter – trotz der ausgeprägten Angst vor Erdbeben und Cholera.

So ändern sich die Dinge und entwickeln sich vorwärts. Noch heute gibt es ungefähr 390.000 vertriebene Menschen und ungefähr 575 Lager (Stand: Juli 2012). Aber die Zahlen sind rückläufig. Das Ziel ist es, bis Ende 2012 die Schwelle von 300.000 Menschen, die in Lagern leben, zu erreichen. Die Situation und das Klima ändern sich: Die Menschen scheinen entspannter zu sein, die Gesichter werden offener. Ja, Haiti macht Fortschritte, ganz langsam…
Die Situation in Haiti ist einfach ein verkleinertes Bild von unserer Welt und deren Auseinandersetzung mit dem Klimawandel. Versteckte Elend, ansteigende Angst vor den Wetterbedingungen und den Krankheiten. Die Menschheit macht jedoch weiter.
Schön wieder etwas über Haiti zu hören zu bekommen. In den Medien ist ja leider Funkstille darüber 🙁