Foto: ein Blick in die Berge ud die mobile DRK-Gesundheitsstation in Nepal

Nepal: neue Hoffnung für Singati – als Arzt im Erdbebengebiet

Am 11.09.2015 von Dr. Reto Eberhard Rast

Erdbeben in Nepal im April und Mai 2015: mobile Klinik vom Roten Kreuz in Singati - Juni 2015

Das erste, was ich von Nepal sah, waren die schneebedeckten Giganten, deren Gipfel auf Flughöhe hunderte von Kilometern entfernt aus dem darunter liegenden Wolkengrund stachen. Solange diese Riesen wachsen und der indische Subkontinent mit gewaltiger Kraft gegen die Eurasische Platte drückt, solange wird es im südlichen Himalaya Erdbeben geben. Die katastrophale Zerstörung der Stadt Muszafarrabad im Kashmir ist erst zehn Jahre her. In Nepal rechnet man etwa alle 75 Jahre mit einem schweren Beben. Das letzte geschah 1934 – nach einer Jahrhunderte dauernden ruhigeren Periode und vielen Erdbeben im Mittelalter.

Schwere Zerstörungen durch das Erdbeben in Nepal

Die Zerstörungen in Singati, Nepal, sind furchtbar groß
Die Zerstörungen in Singati, Nepal, sind furchtbar groß.

Als im Sinkflug Kathmandu sichtbar wurde, war ich jedoch erstaunt über die scheinbar komplett intakte Stadt. Erst im Tempelbezirk bekam ich eine Ahnung von der Stärke des Bebens. Die Gebäude und Pagoden wurden bei den ersten, etwa 50 Sekunden dauernden Erdbewegungen beinahe komplett zerstört. Die Backsteine mit sehr schlechtem oder altem Mörtel hielten nicht. Als ich am folgenden Tag mit einem finnischen Pfleger nach Singati gefahren wurde, nahe das Epizentrums des zweiten Bebens, war die Zerstörung schlichtweg erschütternd und schlafraubend.

Kaum ein Haus steht mehr auf der gesamten, sechs Stunden dauernden Fahrt, außer den wenigen, in kleineren Dörfern oder der Stadt Charikot erbauten, neueren Betongebäuden. Die Menschen wohnen seit Monaten in provisorisch errichteten Zelten oder Wellblechhütten. Solange der Monsun noch anhält (etwa bis September / Oktober), wird man aufgrund der damit verbundenen Transportschwierigkeiten und dem Personalmangel – die Bauern sind mit ihren Reisfeldern beschäftigt – keinen Wiederaufbau beginnen. Zudem ist Stahlbeton im Unterschied zu Europa teurer zu konstruieren als fein aber lose ineinander geschichtete Steinmauern.

Das Rote Kreuz hat den Menschen in Singati wieder Mut gemacht

Singati, wo unser Camp ist, wurde beinahe komplett zerstört. Immerhin überlebten mehr Menschen als man denken würde. Viele konnten sich nach draußen retten oder waren auf dem Markt, als das dritte und hier stärkste Beben am Mittag begann. Das durch einen braunen Fluss getrennte Städtchen hat zwei vergleichbar große Hälften. Obwohl auf beiden Seiten kaum ein Haus mehr steht, starb auf der rechten Flussseite eine einzige Person, während auf der Gegenseite, wo um diese Zeit der Markt stattfand, 92 Menschen den Tod fanden. Manche wurden mit den Marktständen in den Fluss gerissen, andere wurden unter den Holzdächern und Steinmauern begraben. Ein paar verloren ihr Leben unter herabstürzenden Erdmassen.

Aber mit zehntausend Toten nach drei großen Beben zwischen April und Mai ist diese unglaubliche Zerstörung von Wohnhäusern – die Menschenleben betrachtend – beinahe glimpflich. Das Beben in Kaschmir forderte achtmal so viele Opfer. 1934, als noch fünfmal weniger Menschen in Nepal wohnten, mussten ebenfalls 10.000 Menschen ihr Leben lassen.

Aber offenbar, und das sind für uns die schönen Nachrichten, hat das Auftauchen des Roten Kreuzes diesem Dorf wieder Leben eingehaucht. Die Menschen hätten Singati sonst aufgegeben, zu groß sei die Angst vor neuen Erdrutschen und Beben gewesen. Dass fremde Helfer hierherkamen und neben den Ruinen ihr Quartier bezogen, hat ihnen wieder Mut gemacht und sie sind aus den Bergen und Tälern wieder hierhergekommen, um Hütten und Zelte zu bauen.

Ein Kind namens Augusta

In Singati gibt es seit heute ein Kind mit dem Namen Augusta. Als letzte Woche ein ARD-Team hier war, um über das Dorf und unser Lazarett zu berichten, hier das Tagesschau-Video aus Singati, schlossen sie ihre Dokumentation mit einem neugeborenen Kind, dem meine Kollegin Augusta und die einheimische Hebamme auf die Welt halfen. Fünf Minuten nach der Geburt gab die strahlende Mutter schon ihr erstes Interview. Die Familie, die gleich oberhalb des Feldlazaretts wohnt, hatte heute das ganze Team zum Nachtessen eingeladen. Beim scharfen Essen eröffnete uns die Mutter, übersetzt von der einheimischen Hebamme, dass wir dem neugeborenen Töchterchen einen Namen geben sollten. Ein Protest nützte nichts. Mit dem Vorschlag, es solle  Augusta – die Erhabene – heißen, war die Mutter hochzufrieden. Nun hinterlässt also Augusta I, Hebamme aus Bern, die übermorgen zurückreist, eine Augusta Sherpa. Und wenn Augusta II so enthusiastisch, offenherzig und stark wird wie ihre Namensgeberin, dann wird sie in diesem Dorf noch eine wichtige und aufbauende Rolle spielen.

Hebamme aus Bern mit Augusta II
Augusta I, die wunderbare Hebamme aus Bern, mit Augusta II in den Händen von Pallabi, die ihr mit auf die Welt geholfen hat.

Medizinische und diagnostische Unsicherheit

Man arbeitet im Vergleich zu unseren medizinischen Möglichkeiten mit einfachen Mitteln. Gerade laborchemisch sind wir schwach bestückt. Dafür haben wir bei anderer Ausstattung schlichtweg das Beste, was es an Qualität gibt: Vom Finnischen Roten Kreuz den Generator, die Abfallverbrennung, die Wasseraufbereitungsstation, eine Werkstatt mit Geräten, von denen ein Baumarktkunde nur träumen kann, vom Deutschen Roten Kreuz die Zelte und sogar ein Ultraschall und ein mobiles Röntgengerät.

Medizinisch ist man immer wieder mit diagnostischer Unsicherheit konfrontiert, die manchmal von geringer, manchmal von großer Tragweite sein kann. Gestern Abend wurden wir wegen einem Notfall gerufen: ein Knabe mit einem gebrochenen Arm. Da wir relativ weit über der Behandlungsstation wohnen, müssen wir, das heißt dann eine oder zwei einheimische Pflegerinnen und ich als Arzt, von einem Fahrer mit dem Land Cruiser hinunter in den Talboden gefahren werden.

Weitertransport eines Schwerverletzten mit der einheimischen Ambulanz. Der Mann wurde von seiner Kuh über die Felder gezogen. Foto: Reto Eberhard /Schweizer Rotes Kreuz
Weitertransport eines Schwerverletzten mit der einheimischen Ambulanz. Der Mann wurde von seiner Kuh über die Felder gezogen.

Bereits wieder auf dem Rückweg tauchte im Scheinwerferlicht eine aufgeregte Menschentraube auf, die ein fünfzehnjähriges, laut wimmerndes Mädchen offenbar stundenlang ins Tal hinuntergetragen hatten. Das Schluchzen war für mich neu, ich kannte bisher immer nur stilles Ertragen von Leid. Im Behandlungszelt wurde bald klar, dass sie hyperventilierte. Die krallenartig verkrampften Finger und Zehen wie die beschleunigte Atmung deuteten darauf hin. Wahrscheinlich war die Patientin schon stundenlang in diesem Zustand. Nach Gabe eines Beruhigungsmittels wurde sie schlagartig ruhig. Für die Menschen war das fast wie ein Wunder, unglaubliche Erleichterung machte sich breit. Doch die junge Frau hatte bei genauerer Untersuchung auch Fieber, sehr starke Kopfschmerzen und eine leichte Nackenstarre. So war es nicht klar, ob sie doch eine Hirnhautentzündung hatte. Da wir Lumbalpunktionen nicht einfärben können, begannen wir – ohne das je zu wissen – mit einer entsprechenden, länger dauernden Behandlung.

Ein Arzt für mehrere tausend Menschen

Aktuell bin ich wohl für mehrere tausend Menschen der einzige Arzt. Verglichen mit unseren Verhältnissen kommen dafür relativ wenig Patienten hierher; etwa 80 pro Tag. Da mir die einheimischen Pflegerinnen und der finnische Pfleger Jarmo tatkräftig zur Seite stehen, geht das recht gut. Ich finde sogar immer wieder Zeit, bei den einheimischen Pflegerinnen „Bedside Teaching“ zu unternehmen. Sie sind sehr interessiert und dankbar dafür. Aber der schönste Lohn ist das wortkarge Leuchten in den sonnengegerbten, ausgemergelten Gesichtern, die Liebe, die diese Menschen in abgeschlissenen Kleidern einem demütig kundgeben wollen, wenn man ihnen in einer wichtigen Angelegenheit helfen konnte.

Knabe mit schwerem Fingerabszess
Knabe mit schwerem Fingerabszess und Knocheninfekt, der 12 Stunden hierher unterwegs war. Seinen Finger musste ich leider später amputieren.

Eine 65jährige Frau, die beim Erdbeben unter Trümmern begraben wurde und die dann mit einem Helikopter der nepalesischen Armee nach Kathmandu geflogen und dort operiert wurde, hatte im Röntgenbild gar keinen Hüftkopf mehr. Er hatte sich in den Monaten aufgelöst. Ohne Prothese wird ihr ein Gehen nie mehr möglich sein. Und in den steilen Hängen gibt es natürlich keine Möglichkeit für einen Rollstuhl. Sie kann sich aber keine Operation leisten und wir sie nicht anbieten. So habe ich ihr aus einem Fonds, zum dem mir meine Nachbarin verholfen hat, mit Bargeld helfen können. Die Nepalesen selbst würden aber nicht darum betteln. Sie sind enorm tapfer, herzlich, freundlich, zurückhaltend.

» Erfahren Sie mehr über die DRK-Hilfe in Nepal.

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Fotos: Finnisches Rotes Kreuz/ DRK, Reto Eberhard Rast/ Schweizerisches Rotes Kreuz, Johanna Arvo/ Finnisches Rotes Kreuz

Geschrieben von:

Dr. Reto Eberhard Rast

Dr. Reto Eberhard Rast war im August 2015 erstmals als Delegierter des Schweizerischen Roten Kreuzes für einen Monat in der Rotkreuz-Gesundheitsstation Singati tätig. In seinem Wohnort Luzern arbeitet er als Allgemeinarzt und Dozent.

1 Kommentar zu “Nepal: neue Hoffnung für Singati – als Arzt im Erdbebengebiet

  1. Es ist doch immer wieder schön, wenn Ärzte beweisen, dass sie das Studium wirklich gemacht haben, weil Ihnen andere Menschen am Herzen liegen. Und zudem bekommt der Arzt super Ausblicke und macht viele Menschen glücklich. Vielen Dank für den Artikel.

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