Jemenitin isst mit ihren Kindern

Vertriebene im Jemen: „Wir müssen Wege finden“

Am 01.06.2022 von DRK-Team

Jemenitin isst mit ihren Kindern

In den letzten sieben Jahren haben etwa 4 Millionen Menschen im Jemen ihr Eigentum und ihr Zuhause verloren und waren gezwungen, in sicherere Gebiete zu fliehen – auch Souad. Dank ihres Durchhaltevermögens und ihrer Ausbildung konnte die vierfache Mutter das Überleben ihrer Familie sichern.

Viel mehr als „Vertriebene“

Als „Vertriebene“ bezeichnet man jene Personen, die gezwungen sind, aus ihrer Heimatregion in einen anderen Teil ihres Landes zu fliehen. Doch der Begriff bringt kaum die schreckliche Realität zum Ausdruck, mit der Menschen wie Souad und ihre Familie in einem vom Konflikt zerrissenen Land konfrontiert sind.

Verschleierte Jemenitin mit Kind auf Arm
Nachdem sie alles verloren hatte, fand Souad einen neuen Weg.

Zusammen mit ihren vier Kindern und ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann verließ Souad ihr Dorf in Rayma, sie gingen in die Hauptstadt Sana’a und anschließend nach Ma’rib. „Der Krieg zwang uns, unsere Heimat zu verlassen und in ein Vertriebenenlager zu gehen, wo wir uns unserem Schmerz und unserem Leid allein stellen mussten“, sagt Souad, deren Geschichte eine weitere wichtige Realität offenbart: Selbst Menschen, die mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert sind, lassen sich nicht einfach durch Etiketten wie „Vertriebene“ oder „Kriegsopfer“ definieren. Sie sind so viel mehr! Als Souad eines nachmittags in ihrer kleinen Wohnung ihre Geschichte erzählt, nennt sie Worte wie Mutter, Vater, Freiwillige, Lehrerin, Gelehrte und Überlebende.

„Als der Krieg nicht aufhörte und sich verschlimmerte, entschieden sich viele wie wir, ihr Zuhause zu verlassen und in Gouvernements zu gehen, die sie nicht kannten. In dem Versuch, der Geißel des Krieges zu entfliehen, saßen wir fest und waren gezwungen, zwischen den verschiedenen Regionen im Jemen hin und her zu ziehen. Jetzt sind wir im Lager Al-Jafinah untergebracht und leben unter schlechten Bedingungen.“

Jemenitin unterwegs mit Kleinkind

„Das Leben in diesem Lager war ein großer Schock für mich“

Es gibt nur wenige Orte, wo die Menschen im Jemen Hilfe finden. Die Grundversorgung im Land ist nahezu zusammengebrochen, sodass sich Millionen Menschen in einer katastrophalen Lage befinden. Das Land steht vor der weltweit größten Notsituation in Bezug auf die Ernährungssicherheit: 20 Millionen Menschen – 66 Prozent der Bevölkerung des Landes – benötigen humanitäre Hilfe.

Jemenitin mit ihren Kindern
Das Wohlergehen ihrer Kinder ist Souad am wichtigsten.

„In den ersten Tagen im Lager konnte ich das Leben im Zelt nicht ertragen. Es war leer, nur ein paar Decken und Matratzen lagen auf dem Boden. Für mich und meine Familie war die Lebenssituation in allen Aspekten extrem hart, vor allem, weil es an grundlegenden Dingen fehlte. Das Leben in diesem Lager war ein großer Schock für mich. Ich hätte nie erwartet, einmal an einem solchen Ort zu leben.“

„Wir verbrachten unsere Zeit damit, Tag für Tag für das Lebensnotwendige zu kämpfen“, erinnert sich Souad weiter. „Dann verbesserte sich unsere Situation und mein Mann fand einen Job, der uns half, unsere Grundbedürfnisse zu decken.“

Corona bringt weitere Herausforderungen

„Als aber das Corona-Virus den Jemen erreichte, tauchten neue Hindernisse auf. Unser Leben war von ständiger Angst und Sorge geprägt, vor allem wegen der Schwierigkeiten, sauberes Wasser zu beschaffen, aber auch die Quarantänemaßnahmen und die soziale Distanz einzuhalten.“

Souad erzählt weiter: „Und diese Krise hat auch meine Familie nicht verschont. Sie hat meinen Mann das Leben gekostet und mich vor eine größere Herausforderung gestellt, als ich es mir je hätte vorstellen können. Es stellte sich heraus, dass die Ankunft im Vertriebenenlager nicht das Schlimmste war. Ohne die Unterstützung meines Lebenspartners musste ich sowohl die Rolle der Mutter als auch die des Vaters übernehmen.“

Jemenitin lernt mit ihren Kindern

Beistand durch den Roten Halbmond

Souad hatte keinen Raum, ihren Kummer auszuleben. Sie musste sich darauf konzentrieren, das Überleben ihrer Kinder zu sichern. Die Möglichkeit, als Freiwillige für den Jemenitischen Roten Halbmond zu arbeiten, half ihr, die Last der zusätzlichen Verantwortung nach dem Tod ihres Mannes zu tragen. Der Jemenitische Rote Halbmond hat allein im ersten Halbjahr 2021 Millionen von Vertriebenen geholfen – auch wenn der Bedarf noch immer immens ist.
„Einen Monat vor dem Tod meines Mannes erfuhr ich von freiwilligen Helfern des Jemenitischen Roten Halbmonds, die humanitäre Hilfe für Vertriebene leisteten, dass der Rote Halbmond jemanden für Erhebungen vor Ort suchte. Ich meldete mich und wurde Feldbeobachterin.“

Souad bemühte sich weiterhin eine Arbeitsstelle zu finden, um ihre Kinder mit dem Lebensnotwendigsten – Nahrungsmittel und Trinkwasser – zu versorgen zu können. „Die schwierigen Umstände, mit denen wir konfrontiert waren, die Unsicherheit als Vertriebene oder auch die Regenfälle und Überschwemmungen, die unser Zelt heimsuchten, waren mir egal. Meine einzige Sorge war es, eine Arbeit zu finden.“

Klasse im Jemen beim Unterricht

Eine neue Tür öffnet sich – von einer Freiwilligen zur Lehrerin

Schließlich erhielt Souad die Möglichkeit, als Grundschullehrerin an der Al-Thawra-Schule in der Nähe des Lagers zu arbeiten. „Ich bekam diese Chance und wurde Grundschullehrerin, weil mein Vater mich dabei unterstützt hatte, auch nach der Geburt der Kinder meine Ausbildung fortzusetzen. Ich hätte nie erwartet, dass meine Ausbildung eines Tages für mich und meine Familie lebensrettend sein würde.“

Kinder im Jemen schreiben
Souads Kinder beim Lernen

Souad ist sich sicher, dass die Geschichten über die Anstrengungen der Vertriebenen nie enden. Es seien nicht nur die ständigen Bemühungen, Nahrung und Wasser zu beschaffen, sondern auch der Umgang mit der Kälte und dem schlechten Wetter in fragilen Zelten. Auch seien sie in ständiger Angst vor grassierenden Krankheiten und Epidemien. „Aber wir müssen Wege finden, uns neue Lebensweisen zu erschließen, wenn schwierige Umstände das zerstören, was wir aufgebaut haben“, betont die vierfache Mutter.

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Text und Fotos: Abdullah Alfalahi

Geschrieben von:

DRK-Team
Als DRK-Team stellen unter anderem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Online-Redaktion des Deutschen Roten Kreuzes Persönlichkeiten oder Schicksale vor und führen Interviews.

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